Wenn über moderne Langlebigkeitsforschung gesprochen wird, fällt ein Name fast zwangsläufig: Aubrey de Grey. Für die Longevity‑Gemeinde ist Aubrey de Grey ein provokanter Vordenker – jemand, der Altern nicht als schicksalhafte Naturgewalt hinnimmt, sondern als technische Aufgabe beschreibt: Schäden erkennen, Schäden reparieren, Gesundheit zurücksetzen.
In diesem Porträt erfährst du, warum Aubrey de Grey so prägend ist, wofür SENS steht, woran seine aktuelle Organisation arbeitet, welche Bücher du kennen solltest – und was wirklich hinter der vielzitierten These von „1000 Jahren“ steckt.
Inhaltsübersicht
Warum Aubrey de Grey für die Longevity‑Szene wichtig ist
- Aubrey de Grey setzt seit den 2000ern die Agenda: weg vom bloßen „Bremsen“ des Alterns, hin zur planvollen Reparatur der Schäden, die Altern verursachen. Dieses Denken hat die heutige „Damage‑Repair“-Perspektive wesentlich popularisiert und gab der Rejuvenations‑Biotechnologie eine Roadmap.
- Kern seiner Arbeit ist SENS – die „Strategies for Engineered Negligible Senescence“. Dahinter steht die Einteilung von Alterungsschäden in sieben handhabbare Kategorien, für die jeweils konkrete Reparaturstrategien vorgeschlagen werden. Das macht SENS mehr zu einem Pflichtenheft der Ingenieursbiologie als zu einer bloßen Theorie.
Kurzbiografie: vom Informatiker zum Biogerontologen
Aubrey de Grey (Jg. 1963) wurde in London geboren und wuchs dort auf. Er studierte Informatik in Cambridge, arbeitete zunächst in der KI‑Entwicklung und wechselte in den 1990er‑Jahren in die Biogerontologie. Cambridge verlieh ihm später einen Ph.D. (by publication) – unter anderem für Arbeiten zur mitochondrienbezogenen Alterung.
Heute lebt Aubrey de Grey überwiegend in Mountain View (Kalifornien, USA) und pflegt weiterhin enge Bezüge nach Cambridge; zahlreiche Profile nennen ihn als in „Cambridge und Mountain View lebend“. Dieser ungewöhnliche Weg erklärt den stark ingenieurhaften Blick von Aubrey de Grey: Nicht die gesamte Biologie bis zur letzten Wechselwirkung verstehen, sondern identifizierte Schäden systematisch beheben.
SENS in 7 Punkten – verständlich erklärt für Nicht‑Biologen
SENS bündelt die wichtigsten Alterungsschäden in sieben Kategorien – mit passenden Reparaturideen. Hier findest du die Fachbegriffe plus Übersetzung ins Alltagsdeutsch, jeweils mit einem typischen Beispiel und der SENS‑Lösungsidee.
1. Zellverlust und Gewebeatrophie – „RepleniSENS“
Was bedeutet das? Zellen sterben, ohne ersetzt zu werden. Gewebe „dünnen aus“ oder werden schwächer (Atrophie). Beispiel: weniger aktive Stammzellen in Muskeln – die Muskulatur baut im Alter leichter ab.
Warum problematisch? Ohne ausreichend funktionsfähige Zellen verlieren Organe ihre Leistungsfähigkeit (z. B. Herzmuskel, Gehirnregionen).
SENS‑Idee in Alltagssprache: Ersatzteile einbauen. Stammzellen oder gezüchtete Gewebestücke sollen verlorene Zellen ersetzen und Funktionen wiederherstellen – eine „Zell‑Inspektion“ mit Nachfüllen.
2. Krebsentstehung durch „teilungsversessene“ Zellen – „OncoSENS“
Was bedeutet das? Einige Zellen geraten außer Kontrolle und teilen sich immer weiter – das ist Krebs. Viele Tumoren verlängern ihre „Teilungsuhr“ mit Telomerase.
Warum problematisch? Ungebremstes Wachstum zerstört Gewebe und kann metastasieren.
SENS‑Idee in Alltagssprache: Dem Krebs das Werkzeug wegnehmen. Ziel ist es, die Telomer‑Verlängerungs‑Maschinerie selektiv in Krebszellen zu blockieren oder Krebszellen gezielt zu eliminieren, damit sie nicht „unendlich“ weiterteilen können.
3. „Todesscheue“ Zellen (seneszente Zellen) – „ApoptoSENS“
Was bedeutet das? Manche gealterten, geschädigten Zellen weigern sich zu sterben. Sie sind zwar funktionsgestört, geben aber entzündliche Signale ab (SASP), die Nachbarzellen schädigen – wie schlecht gelaunte Nachbarn, die dauernd Lärm machen.
Warum problematisch? Chronische Entzündung, schlechtere Regeneration, höheres Krebsrisiko.
SENS‑Idee in Alltagssprache: Aufräumkommando schicken. „Senolytika“ oder Immun‑Strategien sollen diese Zellen gezielt entfernen – also die „Lärmquelle“ abschalten, damit das Gewebe sich erholt.
4. Mitochondriale DNA‑Schäden – „MitoSENS“
Was bedeutet das? Mitochondrien sind die „Kraftwerke“ der Zelle. Ihre eigene DNA kann Schaden nehmen. Folge: mehr Fehlfunktionen, mehr schädliche Nebenprodukte.
Warum problematisch? Energieengpässe, oxidativer Stress, Gewebefunktionsverlust.
SENS‑Idee in Alltagssprache: Ersatz‑Handbuch in die Schaltzentrale legen. Kritische Gene der Mitochondrien sollen ins sichere Zellkern‑Genom „umgezogen“ werden (Allotopie), damit defekte Mitochondrien trotzdem die richtigen Protein‑Bauanleitungen bekommen.
5. „Müll“ in der Zelle (intrazelluläre Aggregate) – „LysoSENS“
Was bedeutet das? In Zellen sammeln sich schwer abbaubare Stoffe an (Proteinklumpen, Lipofuszin und Ähnliches).
Warum problematisch? Die „Müllabfuhr“ der Zelle (Lysosomen) verstopft; Recycling und Energiehaushalt leiden.
SENS‑Idee in Alltagssprache: Neue Enzyme als Spezial‑Müllabfuhr. Man sucht oder entwickelt Enzyme, die diesen Sondermüll knacken, damit die Zelle wieder frei arbeiten kann.
6. „Müll“ außerhalb der Zelle (extrazelluläre Aggregation) – „AmyloSENS“
Was bedeutet das? Zwischen den Zellen lagern sich klumpige Proteine ab (zum Beispiel Amyloid).
Warum problematisch? Diese Ablagerungen stören Zell‑Zell‑Kommunikation und Gewebestruktur (klassisch: Amyloid im Gehirn).
SENS‑Idee in Alltagssprache: Staubsauger vor die Haustür. Antikörper‑ oder Immun‑Therapien sollen die Klumpen markieren und vom Körper entsorgen lassen.
7. „Versteifung“ der Gewebematrix (Crosslinks) – „GlycoSENS“
Was bedeutet das? Zuckermoleküle und andere chemische Gruppen vernetzen Kollagen‑Fasern wie zusätzliche Klammern (siehe auch: Glykation). Gewebe verliert Elastizität (z. B. in Arterien, Haut, Linse).
Warum problematisch? Höherer Blutdruck, schlechtere Durchblutung, steifere Haut und Sehnen, Altersweitsichtigkeit.
SENS‑Idee in Alltagssprache: Diese Klammern aufknipsen. Man sucht „Crosslink‑Brecher“, kleine Moleküle oder Enzyme, die solche Quervernetzungen lösen und Gewebe wieder elastischer machen.
Zusammenfassung
So liest sich SENS wie ein Reparatur‑Plan für sieben typische Schadensklassen – ganz bewusst unabhängig davon, wie genau der Schaden entstanden ist. Wichtig: SENS ist ein Rahmenwerk; viele vorgeschlagene Lösungen sind noch experimentell und werden schrittweise in Tier‑ und Humanstudien geprüft.
Organisationen und aktueller Status: von Methuselah und SENS zu LEV Foundation – plus die neue LRI‑Plattform
- Methuselah Foundation und SENS Research Foundation: Früh setzte Aubrey de Grey mit der Methuselah Foundation Anreize (Mprize). 2009 folgte die SENS Research Foundation (SRF), die SENS‑Forschung vorantrieb und Outreach betrieb. Im Laufe der Zeit wurden weitere Partnerschaften und Initiativen aufgebaut.
- LEV Foundation (seit 2022): Parallel gründete Aubrey de Grey die Longevity Escape Velocity (LEV) Foundation und führt sie als Präsident und Chief Science Officer. Flaggschiff ist Robust Mouse Rejuvenation (RMR) – große, methodisch saubere Maus‑Kombinationsstudien, die Reparatur‑Interventionen stapeln und ihre additive oder synergistische Wirkung messen.
RMR‑Studien: Was bisher geschah
- RMR‑1 lief von Anfang 2023 bis Anfang 2025. Die letzte Maus starb am 12. Februar 2025; Ende Mai 2025 wurden finale Überlebenskurven veröffentlicht und als „qualified win“ eingeordnet. Begleitend entstand die offene Rodent Aging Interventions Database (RAID), die Lebenszeit‑Experimente bei Nagern visualisiert. RMR‑2 ist in Vorbereitung.
- In flankierender Kommunikation wurde darauf hingewiesen, dass eine Kombination das Leben mittelalter Mäuse um rund vier Monate verlängert habe – ein interessanter, aber vorsichtig zu interpretierender Schritt, der nun methodisch weiter eingeordnet wird.
Buchauthor, Journal und Konferenzen: wie Aubrey de Grey Debatten prägte
Über viele Jahre war Aubrey de Grey Chefredakteur des Peer‑Review‑Journals Rejuvenation Research; aktuell trägt Ben Zealley den Titel „acting editor‑in‑chief“ (Verlag: Mary Ann Liebert). Damit hat Aubrey de Grey nicht nur Ideen verbreitet, sondern auch einen formalen Publikations‑Kanal für Rejuvenationsforschung verstetigt.
Außerdem ist er Author eines vielgelesenen Buches:
Niemals alt!: So lässt sich das Altern umkehren. Fortschritte der Verjüngungsforschung (Original: Ending Aging – 2007, mit Michael Rae)*: Das Standardwerk zu SENS – verständlich, streitbar, detailreich. Es erklärt, warum Altern als kumulativer Schadensprozess verstanden werden sollte und wie man die sieben Schadensklassen gezielt reparieren könnte. Für Einsteiger wie Fortgeschrittene geeignet.
Kritik und Kontroverse – nüchtern eingeordnet
SENS polarisierte von Anfang an: Einige Biogerontologen hielten das Gesamtpaket früh für zu spekulativ; zugleich hat SENS die Reparatur‑Denke stark in den Mainstream geschoben.
2021 trennten sich die Wege von Aubrey de Grey und SRF; wissenschaftlich läuft der Diskurs – nun unter anderem mit LEV Foundation und weiteren Initiativen – weiter und empirischer, zum Beispiel über große Kombi‑Studien.
„1000 Jahre“ in 5 Minuten: Was Aubrey de Grey wirklich meint
Der Satz „Der erste Mensch, der 1000 Jahre alt wird, wurde bereits geboren“ ist kein Versprechen, sondern eine bewusst zugespitzte Statistik‑Botschaft von Aubrey de Grey. Die Kurzversion: Wenn wir Altern als reparierbaren Schaden behandeln und regelmäßig „gesundheitsresetten“, kann das jährliche Sterberisiko auf dem Niveau eines jungen Erwachsenen verharren – und dann werden extrem lange Lebensspannen rechnerisch möglich.
- Herkunft und Kontext: Bereits Mitte der 2000er tauchte die These in Medien und Vorträgen auf. 2012 nannte Aubrey de Grey Zeitpläne: 50 Prozent Chance auf „robuste menschliche Verjüngung“ in 25 Jahren; 10 Prozent Chance, dass es 100 Jahre dauert – jeweils abhängig von ausreichender Finanzierung. „Robuste Verjüngung“ definierte er als etwa 30 zusätzliche gesunde Jahre; „Longevity Escape Velocity“ (LEV) ist die Phase, in der medizinische Fortschritte schneller sind als die Entstehung neuer Schäden.
- 2018 bekräftigt: Er formulierte die 1000‑Jahre‑These als probabilistische Aussage (also eine Aussage, die eine Wahrscheinlichkeit angibt, anstatt eine sichere Tatsache zu behaupten): Wenn Longevity Escape Velocity erreicht ist, bleibt das Sterberisiko auf jungem Niveau – damals schätzte er „weniger als 1 zu 1000 pro Jahr“ – und 1000 sei dann „eine sehr konservative Zahl“.
Die einfache Überschlagsrechnung dahinter: Nimmt man ein konstantes jährliches Sterberisiko p ≈ 1/1000 (also 0,001) an, dann ist die erwartete Restlebenszeit ungefähr 1/p = 1000 Jahre; der Median läge bei ln(2)/p ≈ 693 Jahre. Das ist Mathematik, kein Heilsversprechen – und setzt voraus, dass periodische Reparaturen das Risiko langfristig niedrig halten.
Was bedeutet das für dich? „1000 Jahre“ ist eine Metapher für das Möglichkeitsfenster, das sich auftut, wenn periodische Reparaturen funktionieren. Der praktische Fokus von Aubrey de Grey liegt dennoch auf den nächsten, greifbaren Jahrzehnten gesunder Lebenszeit – denn nur die bringen uns überhaupt in Reichweite künftiger Therapiegenerationen.
Hat Aubrey de Grey eine persönliche „Longevity‑Routine“ oder empfiehlt er Supplements?
Überraschend bodenständig: Aubrey de Grey betont in Interviews seit Jahren, dass er selbst keine Supplement‑Cocktails nimmt, normal isst und nur so viel Sport treibt, wie es zu ihm passt. Sein Argument: Solange Biomarker und Körperkomposition gut sind, ist Über‑Optimierung im Alltag oft mehr Risiko als Nutzen – „if it ain’t broke, don’t fix it“. Für Gesunde ohne Befund rät er zur Zurückhaltung; experimentelle Pharmakologie gehört in Studien oder in enge ärztliche Begleitung.
Einzelne Profile klingen ähnlich: keine rigide Diät, keine Tracker‑Besessenheit, eher regelmäßige medizinische Checks und punktuelle Korrekturen. Das passt zu seiner Grundhaltung: Großes Potenzial erwartet er weniger von Lifestyle‑Feintuning als von künftiger Reparatur‑Biotechnologie.
Was du aus der Arbeit von Aubrey de Grey konkret mitnehmen kannst
- Denke in Schadenskategorien, nicht in Wundermitteln. Frage dich: Welche Alterungsschäden adressiere ich mit meinem Lebensstil – und welche später vielleicht mit Therapien? Das SENS‑Raster hilft, das eigene Handeln zu strukturieren.
- Setze auf Kombinationen – aber evidenzbasiert. Die Zukunft gehört der Multi‑Modalität: Bewegung, Ernährung, Schlaf, psychosoziale Gesundheit plus (später) klinisch geprüfte Rejuvenations‑Tools. Große Maus‑Kombistudien liefern dafür Realitätschecks.
- Baue deine Brücke zur Zukunft. Selbst wenn Aubrey de Greys Zeitpläne nicht Punkt für Punkt eintreffen: Jedes gesunde Jahr heute erhöht deine Chance, morgen von besseren Therapien zu profitieren.
Häufige Fragen zu Aubrey de Grey – kurz beantwortet
- Ist Aubrey de Grey optimistisch, was unsere Lebensspanne angeht? Ja – aber sein Optimismus ist an Technologie‑Fortschritte geknüpft. Er rechnet probabilistisch und sieht eine realistische Chance auf LEV, sofern Forschung und Finanzierung zusammenkommen.
- Welche Rolle spielt Aubrey de Grey heute organisatorisch? Er ist Präsident und Chief Science Officer der LEV Foundation; zusätzlich bestehen weitere Initiativen und Partnerschaften.
- Wo wurde Aubrey de Grey geboren und wo lebt er heute? Geboren wurde er in London; heute lebt er überwiegend in Mountain View (Kalifornien) und ist weiterhin eng mit Cambridge verbunden.
- Nimmt Aubrey de Grey selbst Supplements? Nein – er setzt auf Minimalismus, solange Messwerte passen.
- Ist SENS „Mainstream“? SENS bleibt umstritten, hat aber die Reparatur‑Denke etabliert und liefert strukturierende Kategorien für Forschung und Entwicklung.
Fazit: Warum du Aubrey de Grey kennen solltest
Aubrey de Grey hat der Langlebigkeitsforschung etwas gegeben, das ihr lange fehlte: eine pragmatische Roadmap. Selbst wenn nicht jede Prognose exakt eintrifft, ist sein Ingenieurs‑Blick – Reparatur statt Resignation – heute aus dem Feld nicht wegzudenken.
Für dich bedeutet das: Meistere die Basics (Schlaf, Bewegung, Ernährung, Risikominimierung), verfolge die Kombi‑Studien der LEV Foundation und halte dir die Brücke offen, um von der nächsten Generation evidenzbasierter Rejuvenations‑Therapien zu profitieren. Genau dafür brennt Aubrey de Grey – und genau deshalb bleibt Aubrey de Grey eine der prägenden Stimmen der Longevity‑Bewegung.
Weiterführende Links
- LEV Foundation – Profil und Projekte von Aubrey de Grey – Offizielle Seite mit Kurzbiografie, Rollen, Projektübersicht und laufenden Studien der LEV Foundation.
- Wikipedia: Aubrey de Grey – Enzyklopädischer Überblick zu Biografie, Arbeit, Kontroversen und Veröffentlichungen.
- Wikipedia: SENS Research Foundation – Hintergrund zur Stiftung, Mission, Programmen und Geschichte von SENS.
- Washington Examiner: So you want to live forever? – Magazinbeitrag mit Kontext zur „1000 Jahre“-Aussage und Einordnung von Langlebigkeitsideen.
- Awaken: Silicon Valley’s quest to live forever – Porträtartikel über Langlebigkeitsakteure und de Greys eher bodenständige Routineeinschätzungen.
- 80,000 Hours‑Interview „Living to 1000“ (2012).
- World Stem Cell Summit Q&A zu „1000 Jahren“ (2018).
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